Michael Skoruppa


Hexenbanner, Hexenmacher und Hexenjagden


Was eine Hexe ist, davon haben wir alle eine Vorstellung. Kindern werden heute noch, wenn auch nicht mehr so oft, Märchen erzählt und vorgelesen, von Hänsel und Gretel und der menschenfressenden Hexe zum Beispiel. Im Schimpf-Wortschatz einiger Männer kommt das Wort „Hexe” für Frauen vor, die sie nicht leiden können.


Manche Protestanten halten die Hexenverbrennungen der frühen Neuzeit für eine katholische Angelegenheit. Aber auch Luther und Calvin forderten zum Kampf gegen die Hexen auf. So dürften viele Ostfriesen erstaunt sein zu hören, dass die letzte Hexenverbrennung in unserer Region im Jahre 1665 in Dornum stattfand. 1 Wir alle haben eine Vorstellung davon, was eine Hexe ist, aber jeder eine andere.


Um die Verwirrung zu vervollständigen, nehmen sich hin und wieder Illustrierte und Magazine des Themas an, auf ihre Art: reißerisch werden geheimnisvoll-gruselige Horrorgeschichten erzählt. Dabei geht es nicht so sehr um die historische Wahrheit als um Auflagensteigerung.


Der Glaube, dass es Hexen gibt, Menschen, die durch Zauberei anderen Menschen Schaden zufügen, ist in vielen Kulturen, auch außerhalb Europas, verbreitet. Aber es hat wohl nur in Europa systematische Verfolgungen und Verbrennungen von Hexen gegeben. Heute bezeichnen sich manche Menschen bei uns selbst als Hexen. Sie wollen Rituale, die es in alter Zeit gegeben hat oder gegeben haben soll, wiederbeleben. Sie wollen auch alte Heilmethoden, Heilkräuter, Heilsalben wieder verwenden. Darunter waren allerdings auch höchst gefährliche Mixturen. Alte Zeiten heraufzubeschwören, ist nicht so leicht. Trotzdem gab es (oder gibt es noch) so etwas wie eine Hexen-Mode in esoterischen Zirkeln.


Die Frauenbewegung griff bewusst und trotzig die verleumderische Bezeichnung „Hexe” auf und wendete sie ins Positive. Einige Vertreterinnen werteten in ihren Schriften die Hexenverfolgung als den Versuch, alle Frauen zu vernichten, mit dem Ergebnis von Millionen Opfern. Dafür gibt es keinen historischen Beleg.



Hexen heute


Gewöhnlich aber lehnt sich jemand von heute erleichtert in dem Gedanken zurück, dies alles sei ja nun endlich vorbei und wir in unseren aufgeklärten Zeiten hätten damit nichts mehr zu tun. Das alles sei letztlich eine Sache der Geschichtswissenschaft. Die Frage ist, ob er sich da nicht irrt. Das Museum für Völkerkunde Hamburg hat eine Ausstellung mit dem Titel „Hexenwelten” konzipiert, die auf die Hinterlassenschaft Johann Kruses zurückgeht. Er hat in den 30-er bis 50-er Jahren des vorigen Jahrhunderts Beispiele des anscheinend unausrottbaren Hexenglaubens gesammelt 2 , weil er ein tiefes Mitgefühl für die von ihren Nachbarn, manchmal sogar von den nächsten Angehörigen geächteten und verfolgten Frauen empfand.

„Ich habe in einer Kate gestanden, in der eine alte Witwe wie von Sinnen am Boden lag, weil ein Bauer sie gerade als Hexe vom Hof gejagt hatte. Ich habe gesehen, wie Kinder ihre Mutter, die in ihrer Verzweiflung über die Ächtung und Verfolgung zusammengebrochen war, mit Mühe vor dem Selbstmord bewahrten. Ich habe alte Frauen gesehen, die einsam und verlassen in ihrer kleinen ärmlichen Behausung lebten und infolge der unmenschlichen Verleumdungen verblödet waren. Ich habe Mütter gesehen, die bittere Tränen weinten, weil sie mit Recht fürchteten, der entsetzliche Fluch werde auch auf ihre Tochter fallen und sie zu immerwährender Angst und Not verurteilen.” 3


Die vielen Fallgeschichten, die Kruse erzählt, haben drei Gemeinsamkeiten:


Es gab in den 30-er bis 50-er Jahren des vorigen Jahrhunderts immer noch ziemlich viele Menschen (und wahrscheinlich gibt es heute noch manche), die auf magische Praktiken bei der Heilung von Krankheiten vertrauten und die für jedes Missgeschick, jedes Unglück eine persönliche Verursacherin suchten. Kurse nennt solche Menschen „Abergläubische”.


Immer wurde ein „Hexenbanner” (ein „weiser Mann” oder eine „weise Frau”) hinzugezogen, der mit seinen Zaubersprüchen, mit dem Ausräuchern des Hauses oder des Stalles (bei verhexten Tieren), durch Verwendung von Kot, Urin, Blut, Spucke oder „Teufelsdreck” (Asa foetida) 4 bei seinen Beschwörungen den Schadenszauber der angeblichen Hexe aufhob. Einige Hexenbanner gaben Kruse gegenüber zu, dass sie ihre Tätigkeit als Broterwerb betrachteten und die Intelligenz ihrer Kunden geringschätzten.


Es gab immer einen Schuldigen, eine Hexe zumeist. Wer dies war oder wurde, blieb oft dem Zufall überlassen. Wer bei der Zauberhandlung von außen hinzukam, am Morgen danach als erste oder erster an die Tür klopfte, um sich vielleicht etwas zu leihen, der war’s, der war die Hexe oder der Hexer. Es konnte allerdings auch jemand anders gewesen sein, jemand, der sowieso schon als Hexe oder Hexer bekannt, verdächtig oder unbeliebt war. Das war auch ganz praktisch, weil es wenig Widerstand herausforderte.


Der Hass und die Verachtung, die die gesamte Umgebung einer Frau entgegenbringt, die zur Hexe erklärt wurde, können sie krank machen und sogar töten. Das schert Hexenbanner und Abergläubische nicht.


Das Erschütternde an Kruses Buch ist die Erkenntnis, dass es vor ungefähr 50 Jahren immer noch den Hexenglauben gab, dass es ihn vielleicht in manchen Gegenden, von den meisten Menschen heute wahrscheinlich unbemerkt, immer noch gibt, Jahrhunderte nach den Hexenverbrennungen, lange nach dem Sieg der Aufklärung, den wir für endgültig und umfassend halten.


Dabei handelt es sich um etwas, was mit dem „Antisemitismus ohne Juden” verglichen werden kann, der nicht lange nach dem 2.Weltkrieg mit Verwunderung in Deutschland bemerkt wurde. In einem Land, das fast alle seine Juden (und viele Juden anderer Länder in Europa) ermordet und vertrieben hatte, war der Antisemitismus keinesfalls verschwunden. Wir werden fast täglich Zeugen seines Weiterwirkens, auch bei so manchem, der angeblich nur vor ihm warnen will.


Wie der Antisemitismus letztlich ohne Juden auskommt, so braucht der Hexenglaube keine wirklichen Hexen. Es ist natürlich von Interesse zu wissen, wer als Hexe oder Hexer verfolgt wurde. Beinahe interessanter jedoch ist die Frage nach den Verfolgern. Was macht jemanden zu einem Hexengläubigen oder Antisemiten? Wie ist es möglich, eine solche Entwicklung zu verhindern, im Interesse eines friedlichen Zusammenlebens?


Kruse untersuchte die Schulbücher, die unmittelbar nach dem Ende des 2.Weltkrieges benutzt wurden, und fand, dass es darin von Teufeln und Hexen nur so wimmelte. Er forderte, Teufel und Hexen aus den Schulbüchern zu verbannen. 5 Dies, denke ich, ist inzwischen weitgehend geschehen. Auch das Erzählen und Vorlesen von grausamen Märchen, die die Kinder ängstigen, lehnen viele Eltern inzwischen ab. Bei anderen sind sie nur in Vergessenheit geraten. Entgegen der Auffassung mancher Konservativer bin ich der Ansicht, dass es auch gut sein kann, eine Tradition abzubrechen. Vielleicht sind wir auf diese Weise den Hexenglauben losgeworden oder stehen wenigstens kurz davor. Das wäre ein gewisser Fortschritt. Aber es gibt leider noch genügend andere Möglichkeiten, sich als Verfolger zu betätigen.


Kruse zeigt eindrucksvoll, dass es für die fürchterlichen Wirkungen auf eine Frau oder ein Mädchen, die als Hexe verleumdet werden, keine kirchliche und staatliche Verfolgung braucht, keine Denunziation mit anschließender Folter und Verurteilung im Hexenprozess. Die soziale Ächtung allein kann schon tödlich sein.


Aber Kirche und Staat haben während der Zeit der Hexenverbrennungen im Europa des ausgehenden Mittelalters und der beginnenden Neuzeit die allgemeine Hysterie noch geschürt. Hexen- und Judenverfolgungen waren gang und gäbe. Der Judenstern der Nazis hatte seinen Vorgänger schon im Beschluss einer Synode aus dem Jahre 1215. 6


Angst ergriff vor allem Frauen, die eine Außenseiter-Rolle hatten. Es hat auch -wenige- Männer als Opfer in Hexenprozessen gegeben. Die Täter, die Richter, die Befürworter, waren allerdings zum größten Teil Männer, das natürlich auch, weil sie die höheren Stellungen in der Gesellschaft innehatten. Bei den Denunzianten hat es auch eine Reihe Frauen gegeben.



Theologische Begründungen des Hexenwahns


Die Kirche hatte anfangs den Hexenglauben als etwas Heidnisches angesehen. Wie heute die meisten Menschen die Vorstellung, es gäbe Hexen, für einen Aberglauben halten, so lehnte die Kirche dieses in ihren Augen heidnische Relikt lange Zeit ab. Wer an Hexen glaubte, verstieß gegen die christliche Lehre.

„Es spricht für sich, dass im fränkischen Reich 782 demjenigen die Todesstrafe angedroht wurde, der eine männliche oder weibliche Person als Hexe bezeichnet und verbrennt, und dass um 1100 der ungarische König Koloman dekretierte, es gäbe keine Hexen, weswegen auch keine zu verfolgen seien, wogegen im 15. Jahrhundert demjenigen Exkommunikation und Tod drohten, der eben dies nicht tat. Ein Theologe, der die Realität der Hexenfahrten bestritt, der Prior Adeline (Edleine) von St. Germain en Laye, wurde 1453 so lange gefoltert, bis er seine Meinung korrigierte. Er starb im Gefängnis...Auch in der Neuzeit blieb die Diskussion über die Realität des Hexenwesens gefährlich: Der Trierer Theologieprofessor Cornelius Loos (Callidius), der 1591 einen kritischen Traktat dazu publiziert hatte, musste widerrufen, wurde ausgewiesen und starb trotzdem im Kerker. Noch der Jesuit Friedrich von Spee musste 1631 sein bahnbrechendes Werk Cautio criminalis anonym bei einem protestantischen Verleger und damit ohne kirchliches Imprimatur ( = katholische Druckerlaubnis-M.S.) herausbringen.” 7


Die Änderung der kirchlichen Einstellung gegenüber dem Hexenglauben erfolgte durch die Einsetzung der Inquisition, einer kirchlichen Behörde, die über die Reinheit des Glaubens wachen sollte. Die Inquisition, 1232 von Papst Gregor VI. gegründet und dem Dominikaner-Orden übertragen, beteiligte sich sogleich an der Verfolgung der Waldenser und Albigenser, beides Reformbewegungen mit frühchristlichen Zügen. Die „Ketzer” wurden in blutigen Feldzügen verfolgt und vernichtend geschlagen. Unter Rückgriff auf Schriften von Augustinus und dem Scholastiker Thomas von Aquin weitete sich das Schreckens-Regime auf die Hexen aus. (Der Groß-Inquisitor Torquemada betrieb zudem die Vertreibung und Ausrottung der Juden von Spanien.). Papst Innonzenz VIII war ein typischer „Renaissance-Papst”, der für sein ausschweifendes Leben bekannt war. Die Anzahl seiner Kinder ist bis heute umstritten. Er gab mit seiner Bulle vom 5.12.1484 der Hexenverfolgung höchsten kirchlichen Segen. An ihn hatten sich die späteren Verfasser des „Hexenhammers” (1487), die beiden Dominikaner-Mönche H. ÿ Institoris und J. ÿ Sprenger, zur Bestätigung ihres Treibens gewandt. 8 Bei ihren Anweisungen für Hexenprozesse, bei der Durchführung ihrer Hexenprozesse konnten sie sich nun auf die oberste kirchliche Autorität berufen. Man verbrannte die Hexen aus Fürsorge für ihre Seelen. Sie konnten so nach ihrem Tod noch auf die ewige Seligkeit hoffen. Das „Heilige Officium” (das heilige Amt), wie die Inquisition auch schönfärberisch und zynisch genannt wurde, war also für die vieltausendfache Folterung und Vernichtung von Menschen, von denen die überaus meisten Frauen waren, verantwortlich. Dabei arbeitete man eng mit den staatlichen Einrichtungen zusammen, die die Hinrichtungen durchführten.


„So wurde im tradierten Hexenschema eine Erklärung für die vielfältigen Störungen der Welt- ordnung angeboten: für Impotenz, Wetterschäden, Krankheitsfälle, Unfruchtbarkeit und manches andere. Der Teufel und seine irdischen Statthalter, die Hexen, mussten für das herhalten, was nicht mehr einem göttlichen Heilsplan integriert war und noch nicht durch eine naturwissenschaftlich-exakte Erklärung verstanden werden konnte. Gerade das letztgenannte Argument könnte auch erklären, weshalb die Hexenverfolgung nicht auf die alte Kirche beschränkt blieb, sondern fast im gleichen Umfang und mit gleicher Grausamkeit in der protestantischen Welt betrieben wurde.”


So schreibt Helmut Brackert 9 und fährt mit einem Zitat 10 fort:

„Hatten die katholischen Prediger den Hexenwahn begründet, so sollten ihn die protestantischen rasch wiederbeleben und verbreiten. Schon in den 40-er Jahren des 16.Jhs. vernahm man Warnzeichen. 1540 wurden im Wittenberg Luthers 4 Hexen verbrannt. Luther war in dieser Hinsicht ebenso abergläubisch wie ein Dominikaner, und in zunehmendem Alter vergrößerte sich auch sein Aberglaube an succubi, incubi („Beischlaf-Teufel”, M.S.), Nachtfahrt und anderem mehr. Hexen, verkündete er, sollten auch dann verbrannt werden, wenn sie keinen Schaden anrichteten, und zwar nur deswegen, weil sie mit dem Teufel paktierten. In Zürich hielt sich Zwinglis Nachfolger nicht an dessen maßvolle Einstellung. In Genf führte Calvin dieselbe Sprache wie Luther...’Die Zauberinnen sollst du nicht leben lassen.’ Mit grimmigem Wohlbehagen sollte der protestantische Klerus - ob nun lutherisch, calvinistisch oder zwinglianisch die nächsten 100 Jahre über diese würzige Textstelle predigen...Wohin die Protestanten auch kamen, sie brachten den Hexenwahn mit sich.”


Die Stelle in der Bibel ist Exodus 22, 18. In den plattdeutschen Urkunden und Berichten ist infolgedessen von „Toverschen” (in unterschiedlichen Schreibweisen) und nicht von „Hexen” die Rede. So nennt sie auch der Häuptling und Hexenrichter Eggerik Beninga, der in der Kirche von Grimersum (Krummhörn), beerdigt ist. Nach ihm ist in seinem Heimatort auch eine Straße benannt. Die Namen vieler hingerichteter Hexen, auch aus der Krummhörn, sind ebenfalls bekannt, aber nur denen, die in Zeitschriften danach suchen.


Als Hexen bezeichnete man Frauen, die einen Pakt mit dem Teufel geschlossen und dadurch magische Kräfte erlangt hatten, mit denen sie zumeist anderen Menschen Schaden zufügten. Sie ließen sie krank werden, sorgten für eine schlechte Ernte, brachten ihnen im schlimmsten Fall den Tod. Hexen ließen sich sexuell mit dem Teufel ein, flogen durch die Lüfte, bereiteten Zaubertränke und Zaubersalben, verführten andere zur Zauberei und zum Teufelsdienst. Sie saßen und tanzten nachts, oft unbekleidet, rund um einen Hexenkessel mit einem Getränk, das ihnen eine magische Kraft verlieh. Heute denkt man dabei, vielleicht mehr als früher, an die bewußtseinsverändernden Wirkungen auch heimischer Drogen.


Die Einstellung gegenüber der Wirklichkeit war ganz anders, mit der heutigen nicht vergleichbar, „magischer” ist wohl das beste Wort. Die Trennlinien zwischen Wirklichkeit, Traum, Rausch, Halluzination und Wahn verliefen nicht so wie heute, waren weniger strikt. Es ist sehr schwierig, sich in die damalige Zeit und Mentalität in Europa hineinzudenken und hineinzufühlen. Dazu braucht es so etwas wie eine „historische Ethnologie Europas”, Völkerkunde einmal andersherum. Wie Hans Peter Duerr es mit seinem Buch „Traumzeit” versucht hat, müssen wir uns selbst von außen betrachten, unseren Hochmut fallen lassen und uns mit denen vergleichen, die wir die Primitiven nennen. Das ist der Erkenntnis meist sehr förderlich. 11


Die Aussagen, die Hexen in ihrem Prozess nach Folter und suggestivem Befragen schließlich machten, sind nicht das Papier wert, auf dem sie festgehalten wurden. Es gibt einfach keine Berichte von Hexen, die unabhängig von ihrer Verfolgung entstanden sind.





Verehren und vernichten 12


In unserem heutigen Sinne magische Vorstellungen prägten auch eine andere Gruppe von Menschen, die wir normalerweise nicht mit Hexen in Verbindung bringen. Das waren die großen Mystikerinnen, die in Deutschland im 12. und 13.Jahrhundert ihren Höhepunkt erlebten. Die Heilige Hildegard von Bingen ist die bekannteste unter ihnen.


Das Christentum kannte vor der Reformation die Verehrung von Heiligen. Vom Papst werden heute noch Menschen heiliggesprochen. Sie werden den Katholiken zu Verehrung und Fürbitte empfohlen, wegen ihres besonders christlichen Lebenswandels.


Wurden im Frühmittelalter hauptsächlich Frauen von Stand, mit einem großen Namen, heiliggeprochen, so änderte sich dies im Hochmittelalter. Mystikerinnen, die sich von den übrigen, „normalen” Gläubigen dadurch abhoben, dass sie das Leben Christi in Armut, im Leiden und oft auch in Jungfräulichkeit nachahmten, waren die weiblichen Heiligen dieser Zeit. Ihre „Nachfolge Christi” ging meist so weit, dass sich an ihnen die Wundmale Jesu zeigten, wie das beispielsweise noch im letzten Jahrhundert bei Therese von Konnersreuth (1898-1962) der Fall gewesen sein soll. Freilich ist es heute für eine Mystikerin nicht mehr so leicht, heiliggesprochen zu werden. Selbst an der katholischen Kirche ist die Aufklärung nicht spurlos vorüber- gegangen.


Manche der Mystikerinnen nahmen jahrelang nichts zu sich als die Kommunion, das Abendmahl, schwebten über dem Boden, wurden an andere Orte entrückt, heilten Unheilbare und vollbrachten dazu noch andere Wunder, auch sogenannte „Strafwunder”, die leicht mit einem Schadenzauber verwechselt werden können. Sie verlobten sich mit Christus, sahen ihn in ihren Visionen, als schönen Jüngling zum Beispiel. Und ihre erotische Beziehung zu ihm reichte bis zu Scheinschwangerschaften. Sie machten Prophezeiungen und hatten Ekstasen, bei denen sie lange Zeit nicht ansprechbar waren und nichts fühlten.


Diese Frauen genossen hohes Ansehen, viele von ihnen wurden bereits zu Lebzeiten als Heilige verehrt und es wurden oft ihnen zu Ehren Kirchen gebaut. Das wirkte natürlich besonders attraktiv auf manche Frauen. Auch Betrügerinnen versuchten, eine solche Berühmtheit zu erlangen. Das wurde aber manchmal durch Mitschwestern aufgedeckt (viele Mystikerinnen gehörten einem Orden an, wenn auch oft nur in den niedrigeren Rängen). Durch eine Ritze in der Tür oder durchs Schlüsselloch sahen sie beispielsweise die Mystikerin, die angeblich nur von der heiligen Hostie lebte, nachts ihren Hunger stillen.


So manche Mystikerin und Heilige ist während ihres Lebens auch als Hexe angesehen, verfolgt und eingekerkert worden. Denn im Christentum, mit seinem Widerstreit zwischen Gott und Teufel, Himmel und Hölle, absolut Gutem und absolut Bösem, konnten ja alle diese Gaben von zwei verschiedenen Seiten kommen. Der Teufel war (ist?) fast genauso mächtig wie Gott. Nahezu immer musste daher eine „Unterscheidung der Geister” stattfinden, damit die Gläubigen sicher sein konnten. Das Urteil fällten natürlich die Fachmänner, die Theologen.

Johanna von Orleans wurde beispielsweise 1431 von einem geistlichen Gericht als Hexe verurteilt und verbrannt. 1456 wurde das Urteil aufgehoben. 1920 wurde sie heiliggesprochen. Es gab natürlich auch den umgekehrten Fall, dass die Gebeine einer als heilig verehrten Frau ausgegraben und verbrannt wurden.

Dinzelbacher findet viele Parallelen zwischen heiligen Mystikerinnen und Hexen. Zuerst einmal wichen diese Frauen in ihrem Verhalten vom „Normalen” ab. Wenn eine Frau in der Kirche in Ekstase geriet und dabei laute Schreie ausstieß oder völlig unbeweglich wurde, wurde dies auch damals oft als Störung empfunden. Viele Menschen waren allerdings bereit, darin eine besondere göttliche Begnadung zu sehen. Unter Theologen begann dann der Streit darüber, ob dieses ungewöhnliche Verhalten nun ein Werk Gottes oder des Teufels sei. Je nach der Größe und der Macht der beiden Gruppen, setzte sich bei der einen Frau die Ansicht durch, dass es sich um eine Heilige handele, die andere war vielleicht eine Hexe. Es kam auch durchaus vor, dass die gleiche Frau eine gewisse Zeit als Hexe angesehen wurde, und später, eventuell noch zu Lebzeiten, als Heilige. Manche Mystikerinnen waren im dauernden Zweifel, der sie oft selbst zermürbte.


Betrachtet man die Kennzeichen von Heiligen und Hexen, so sticht die Ähnlichkeit zwischen beiden ins Auge: die Beziehung zum Übernatürlichen, der Flug bzw. die Entrückung an einen anderen Ort, Verlobung mit Christus bzw. Buhlschaft mit dem Teufel, die Wundmale Jesu oder das Hexenmal, die besondere Beziehung zu Hostien, alleinige Nahrung vieler Mystikerinnen und Zaubermittel der Hexen, die Hostien stahlen usw. usw.


Eine Hexe ist, diese Betrachtungsweise zugrundegelegt, das Negativ der Mystikerin. Beide griffen allerdings tief in die alleinige magische Autorität der katholischen Kirche ein, deren Segnung der Felder an den drei Tagen vor Christi Himmelfahrt zum Beispiel vom Fruchtbarkeitszauber eines Schamanen für einen Ungläubigen nicht zu unterscheiden ist.


Schwierig ist auch die Abgrenzung der Mystikerin und der Hexe von der Frau, die vom Teufel besessen ist. Bei vielen Mystikerinnen wurden auch Teufelsaustreibungen durchgeführt. Eine Frau, die sonst als Hexe verurteilt worden wäre, war sicherlich noch froh, wenn sie mit einem Exorzismus davonkam. Die Priester der katholischen Kirche treiben heute noch zu Beginn des Taufrituals die Dämonen des Säuglings aus. Hin und wieder kann man auch noch in bunten Blättern über das Schicksal von Besessenen lesen, denen der oder die Teufel (manche haben sehr viele) ausgetrieben wurden, bevor sie zu einem Psychotherapeuten kamen. Mancher allerdings erging es nicht so gut. 13


Die Kirchen der Reformation lehnten die Verehrung von Heiligen als Götzendienst grundsätzlich ab, während sie die Vernichtung von Hexen und Hexern beibehielten.



Die wirklichen Hexen?


Es gibt einige Vermutungen darüber und Hinweise darauf, welche Art von Frauen ursprünglich einmal gemeint waren, als die Verfolgung der Hexen begann.


Einige Autoren nehmen an, dass die Christianisierung selbst im Mittelalter nicht so weit fortgeschritten war, dass sich nicht Reste alter heidnischer Kulte hier und da im Volksglauben erhalten hätten. Das trifft eventuell für die „Nachtfahrenden” zu, die noch die Göttin Diana verehrten, die alte Göttin der Jagd. Von ihnen sind vielleicht die Vorstellungen über die Flüge der Hexen genommen.

Die Kirche hatte viele alte Kultstätten dadurch „neutralisiert”, dass sie an den alten Orten neue Kirchen oder Wallfahrtsstätten baute, an denen statt der alten Götter oder Dämonen nun christliche Heilige mit ähnlichen Merkmalen verehrt wurden. Wie man heute aus Mittel- und Südamerika weiß, kann dann unter und neben den christlichen Riten der alte „heidnische” Glaube sehr lange Zeit überleben.


„Neuere, besonders französische und englische Untersuchungen zu Erscheinungsformen ländlicher Magie, die die eindimensionale, unbegründete Eingrenzung von Aberglaube und Magie auf ‘Überbleibsel’, Phänomene vorchristlich-heidnischen Ursprungs und auf einen Gegenpol zur christlichen Religion als unzureichend und verkürzend ablehnen, verlagern deshalb ihr Interesse immer stärker auf das Studium volkstümlicher Quellen. Aus deren Analyse ergibt sich augenfällig, dass die von der Kirche vorgegebene Spaltung in Glaube und Aberglaube den zeitgenössischen Menschen fremd war, die zwischen Christentum und Magie keinen prinzipiellen Unterschied sahen und die obrigkeitliche Verbots- und Strafpraxis nicht verstanden.” 14


Man hatte Frauen gegenüber im Christentum bis dahin keine besondere Achtung. 15 Sie hatten wenig Einfluss. Die Verehrung Marias und weiblicher Heiliger konnte darüber wenig hinweg- täuschen. Im Gegenteil: Diese Idealisierungen konnten eher dazu dienen, in einer wirklichen Frau das Gefühl ihrer Minderwertigkeit zu verstärken.


Frauen waren seit langer Zeit Heilerinnen, die die Wirkungen vieler Kräuter kannten, von denen niemand sonst etwas wusste. In den sich entwickelnden Naturwissenschaften, in der Medizin wurden die Ärzte viel wichtiger. Aber die „Volksmedizin” lebte weiter, diente manchem der neuen wissenschaftlichen Ärzte teilweise sogar als Grundlage seines Wissens. Die Kenntnisse der Heilerinnen, der „Volksmagierinnen”, schlossen mit großer Wahrscheinlichkeit auch diejenigen Kräuter und Salben ein, die berauschende Wirkungen haben, die die Menschen wahrscheinlich einen Alltag haben ertragen lassen, der sonst unerträglich gewesen wäre. Dies war ein Alltag voller Angst: Angst vor Krankheiten wie der Pest, die ganze Landstriche auslöschte, Angst vor dem Krieg, Angst vor den Herrschenden, die nahezu unbeschränkte Rechte gegenüber ihren Lehnsabhängigen geltend machen, die Frondienste nahezu grenzenlos ausdehnen konnten, Angst natürlich auch vor bösen (schwarzen) magischen Kräften, die durch die „Weiße Magie” gebannt wurden, nicht zuletzt die Furcht vor der ewigen Verdammnis. Wenn die natürlichen Mittel (Kräuter, Salben usw.) nicht halfen, suchten die Heilerinnen natürlich in der Magie ihre Zuflucht. Sie hatten auch Kenntnisse in der Empfängnisverhütung.


Viele Autoren meinen, es seien die Heilerinnen, die weisen Frauen, gewesen, denen die Hexenverfolgung hauptsächlich galt.


Sicher nahmen nicht nur die heilenden Frauen, sondern auch die gewöhnlichen vom öffentlichen Leben ausgeschlossenen Frauen, magische Praktiken vor, Beschwörungen, harmlosen Abwehrzauber. Dies alles waren Bestandteile eines verbreiteten Volks-Aberglaubens. Jeder und jede aber, die auf diese Weise vom rechten Glauben abwich, hatte nach den Vorstellungen der Kirche einen Pakt mit dem Teufel abgeschlossen, musste verfolgt, bekehrt und meist auch zum eigenen Besten getötet werden. Das Aussehen des Teufels rief die Neugier eines jeden Inquisitors hervor, natürlich auch die Praktiken, die bei der „Buhlschaft” mit ihm zur Anwendung kamen. Glücklicherweise konnte der Teufel, wie allgemein bekannt war, sein Aussehen ändern. So konnten immer neue, widersprüchliche Beschreibungen keinen Argwohn wecken, sondern nur den ohnehin schon großen Erfahrungsschatz der Inquisitoren bereichern. Auch über geheime Körpermerkmale von Hexen wurde eifrig unter ihren Verfolgern diskutiert. Die Frauen wurden ausgezogen und gründlich untersucht. Hexenmale konnten leicht gefunden werden. Muttermale und Narben hat ja fast jeder Mensch. So manchem Hexenverfolger würde man heute gewiss eine psycho-sexuelle Störung attestieren.


Hans Peter Duerr schildert, wie die Frauen des 14. Jahrhunderts nach langer Unterdrückung wieder einmal den Versuch der Emanzipation unternahmen, der dann schließlich in der Hexenverfolgung scheiterte. 16 Das Aufbegehren der Frauen, das neue weibliche Selbstvertrauen zeigte sich natürlich auch in einer freizügigen Mode. Das macht Männern immer besonders Angst. Für viele Frauen stellten die Hexenverbrennungen eine Bedrohung dar, und sie zogen sich zurück.


Die Hexenverfolgung wurde wie schon zuvor die Feldzüge gegen die Ketzer zu einem großen Teil auch durch handfeste materielle Interessen in Gang gesetzt und in Gang gehalten. Denen, die einen reichen Ketzer zu Fall gebracht, getötet und ihn somit vor der ewigen Verdammnis gerettet hatten, die ihm sonst gedroht hätte, fiel zumindest ein großer Teil seines Vermögens zu. Auch trugen die Hexengerichte und Hexenprozesse sich weitgehend wirtschaftlich selbst, durch das Vermögen, das nach der Verbrennung anfiel. Auch so mancher Denunziant ist durch die Aussicht auf den Wegfall seiner Schulden nach dem Tod des reichen Gläubigers zu seinem scheußlichen Tun bewegt worden. 17


Ob nun die einzelne verurteilte und verbrannte Hexe eine Heilerin war, magische Praktiken betrieb, dem Diana-Kult anhing, oder nur besonders schön, hässlich, reich oder alt war - das können wir nicht wissen. Denn eine Hexe war vor allen Dingen eine Frau, die von anderen zu einer Hexe gemacht wurde, verleumdet, denunziert, gefoltert, verurteilt und gemordet.



Die Folter


Ohne die Anwendung der Folter hätte die Hexenverfolgung nicht ihre epidemischen Ausmaße annehmen können. Folter bedeutet die schrankenlose Macht eines Menschen über den anderen, über sein Leben und seinen Tod. Sie wurde (und wird heute noch) angewendet als, so würde man vielleicht in unseren Tagen sagen: Ausübung „grenzenloser Gerechtigkeit” im Kampf „des Guten” gegen „das Böse”, bei dem alle Mittel erlaubt sind. Schließlich ging es und geht es um Untergang oder Fortbestand der „absolut guten, gerechten, göttlichen Weltordnung”. An dieser Weltordnung ist kein Zweifel erlaubt. Der Richter als Sachwalter des absolut Guten entschied, entscheidet über die Vernichtung des absolut Bösen. Seine Projektionen, auch seine perversesten Phantasien über das Böse und die vor ihm stehende Böse konnte er sich durch sein Opfer auch noch bestätigen lassen! Welch ein Rausch der Macht! Im Namen Gottes, im Namen des Guten, straflos also, konnte er jemanden vernichten, seine Verbrechen begehen. Er selbst sah natürlich ein gutes Werk darin, dass er Menschen aufs äußerste erniedrigte und vernichtete. Es diente ihrem eigenen Besten, ihrer ewigen Glückseligkeit und der Aufrechterhaltung der göttlichen Ordnung.


Untrennbar verbunden mit dem Rausch der absoluten Macht über Menschen ist eine fast unvorstellbare Selbstgerechtigkeit. Sie erwächst aus dem Glauben an eine absolute religiöse oder ideologische Instanz, der jedes Mitgefühl mit anderen Menschen tötet. Wer die gerade geltenden Auffassungen am tiefsten verinnerlicht, jeden Zweifel daran in sich abgetötet hat, ist am besten geeignet, diese Überzeugungen an anderen zu exekutieren. Wer andere als Menschen sieht, die ihm selbst ähnlich sind, mit Stärken und Schwächen, wer noch mit anderen fühlen kann, wird zu solchen Taten der terroristischen Aufrechterhaltung der Ordnung nicht fähig sein. Eine solche Ordnung kann dann auch nur zutiefst unmenschlich sein.


Der Richter konnte noch mehr für „das Gute” tun. Er konnte durch den Einsatz der Folter die Namen weiterer Feinde „des Guten” aus der ihm bedingungslos ausgelieferten Bösen herauspressen. Er trug in seinen Augen dazu bei, durch die Hinrichtung möglichst vieler Böser das Reich Gottes, das Reich des Guten, auf Erden endlich anbrechen zu lassen. Er konnte verächtlich auf die Gefolterten herabblicken, die sich vielleicht, um ihr Leben zu retten, auch noch gegenseitig ans Messer lieferten, sich in Beschuldigungen überboten. Er konnte sich als der Starke, Mächtige, Gute darstellen, was für viele Menschen bis heute das Gleiche ist. Durch die Folter und durch die Förderung der Denunziation konnten sich die Hexenprozesse und konnte sich das Untertanentum ausbreiten. 18


Der Scharfrichter und der Folterknecht waren „unehrenhafte Berufe”. Die Gesellschaft brauchte und duldete sie, aber nur so ganz am Rand. Die blutige Arbeit musste gemacht werden, aber wie heute distanzierte man sich gleichzeitig davon. Der Folterknecht ist auch heute noch der radikale Konformist. Er hat sein eigenes Empfinden ganz zurückgestellt oder eingebüßt. Nur so kann er ohne Einfühlung in den anderen, in sein Opfer, seiner Arbeit nachgehen. Er kann seine Opfer nicht aussuchen wie der Richter, aber ebenso wie er empfindet er seine grausame Befriedigung darin, andere zu erniedrigen im Dienste eines (in seinen Augen) höheren Gutes, als es ein Mensch ist. Er kann die geltenden Auffassungen einem anderen aufzwingen, dadurch ihre Gültigkeit „beweisen” und seine eigenen Zweifel gleichzeitig immer wieder unterdrücken. Aber er wird sie nie richtig los. Er weiß, dass er sich unterworfen hat, dass er sein eigenes Empfinden immer leugnen muss. Das nährt seine Wut und ermöglicht ihm so seine Arbeit.


Die Gaffer, die in Scharen den Hexenverbrennungen und anderen grausamen Hinrichtungen beiwohnten, identifizierten sich ebenso mit den Obrigkeiten, die diese Schauspiele veranstalteten. Den meisten von ihnen wird wohl kaum bewusst geworden sein, dass auch sie anstelle der Verurteilten zufällig hätten die Opfer werden können. Um die Taten der Folterer und Hexenrichter ausführen zu können, fehlte den Gaffern nur eines: die Macht, die sie in ihrem Inneren anbeteten.


Die Folter zerstört auch das Menschsein des Folterers und des Gaffers, jedenfalls das, was davon noch vorhanden sein sollte.



Der geschichtliche Hintergrund der Hexenverfolgungen


Vor 500 Jahren befand sich Europa mitten im „Hexenwahn”. „Der ausgesprochene Hexenwahn (Hervorhebung im Original) vom 14. bis zum 17. Jh. ist ein sozialpsychologisches Phänomen des Spät-MA. Der Umbruch der geistigen, religiösen und polit. Verhältnisse brachte Unsicherheiten aller Art mit sich, und die Menschen, bes. Mitteleuropas, sahen die Teufelsherrschaft der erwarteten Endzeit anbrechen.” 19 Historiker sprechen von der „spätmittelalterlichen Krise” oder von der „Krise des Feudalsystems”. In Europa traten durch die Verringerung der landwirtschaftlichen Produktion im 14. Jahrhundert Hungersnöte auf, die Pest wütete unter den schlecht ernährten Menschen.


Die italienischen reichen Handelsstädte erreichten zur gleichen Zeit eine Blüte in der Kunst und besonders der Architektur. Die Antike wurde wiederentdeckt, ihre bildende Kunst, Literatur und Philosophie. 20 Die Menschen begannen, sich von der Kirche und dem Feudalsystem abzuwenden, ihnen gegenüber gleichgültig zu werden. Es war das Zeitalter der „Renaissance” und des „Humanismus”, das bald ganz Europa in seinen Bann zog. Ein neues Bild der Welt breitete sich aus, die Erde war nicht mehr der Mittelpunkt. Die Sinne, die Sinnlichkeit und der Genuss erhielten einen neuen, hohen Stellenwert. Der Körper wurde mit anderen Augen gesehen. Wer Bilder aus dem frühen Mittelalter mit denen des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit vergleicht, dem fällt dies sofort auf. Alle bisherigen Gewissheiten waren in Frage gestellt, und die alten Mächte wehrten sich nach Kräften, mit großer Gewalt.


In Deutschland nahm die Auseinandersetzung mit der Kirche einen anderen Verlauf als in Italien: einen theologischen. Nach der Reformation begannen die Glaubenskriege des 16. Jahrhunderts, die im 30-jährigen Krieg (von 1618 bis 1648) einen blutigen Höhepunkt und Abschluss fanden. Danach waren über 30% der Bevölkerung in den vielen betroffenen Gebieten getötet, ganze Dörfer waren von der Landkarte verschwunden. Wie in Ostfriesland die Menschen mit einem gewissen Grauen von den Dörfern sprechen, die von der See verschlungen wurden, so verweisen die Bewohner anderer Landstriche in Deutschland auf Orte, die während des 30-jährigen Krieges ausgelöscht wurden, von denen keine sichtbare Spur blieb, nur die Erzählungen.


Dieter Boris 21 fasst die gesellschaftlichen Veränderungen der Jahrhunderte vor der Reformation (14. und 15.)zusammen und beruft sich dabei auf K.G.Zinn 22 :


„Ihm zufolge war insbesondere die Zeit nach der Pest durch zunehmende Brutalisierung der innergesellschaftlichen und der intergesellschaftlichen Beziehungen gekennzeichnet: Pogrome, Ketzer- und Hexenverfolgungen, allgemeine Strafrechtsverschärfungen, steigende Kriminalität und Intensivierung militärischer Konflikte waren seiner Ansicht nach verhaltensprägende Momente, denen gegenüber andere Veränderungen des gesellschaftlichen Lebens untergeordnet waren. Zugleich unterstreicht zinn die markante Veränderung in der Technikentwicklung, die in jener Zeit kaum der Landwirtschaft und der gewerblichen Produktion gegolten habe, vielmehr neben der Hochseeschiffahrt, der Erfindung der Pendeluhr und der Buchdruckerkunst - vor allem auf die Revolutionierung der Waffentechnologie - insbesondere die Übernahme, Verbesserung und Verbreitung der Feuerwaffen - konzentriert gewesen sei.


Wie Cipolla 23 sieht er in der Verbindung von entfalteter Schiffbautechnik (Karavelle) und ent- sprechender Artillerie den entscheidenden Schlüssel für die Erklärung europäischer Überlegen- heit im Entdeckungs- und Eroberungskontext. Beide Momente zusammengenommen, die Feuerwaffeninnovation und die allgemeine Brutalisierung der menschlichen Beziehungen, sind nach zinn die wesentlichen materiellen und mentalen Voraussetzungen für die Entdeckungen und Eroberungen gewesen.” Boris schätzt den Anteil der Ausgaben für das Militär an den jeweiligen Staatsausgaben zur damaligen Zeit auf ca. 60-80%. 24 25



Kritik der Hexenverfolgung


Der Widerstand gegen die Hexenverbrennungen ist so alt wie die Verfolgung selbst. Es war allerdings oft sehr gefährlich, Kritik zu äußern. Wer gegen diese Grausamkeit auftrat, geriet selbst in den Verdacht der Unterstützung der Hexerei, nach dem heute noch bekannten, simplen Motto: „Wer nicht für uns ist, ist gegen uns.”


Mit dem Beginn der „Aufklärung” (Ende des 17., Anfang des 18. Jahrhunderts) wurden Hexenprozesse selten. Die Prozesse, die dennoch stattfanden, wurden von den Aufklärern heftig kritisiert. Die letzten Hexenhinrichtungen in Europa fanden statt: 1775 in Deutschland (Kempten), 1782 in der Schweiz und 1793 in Polen. 26 Die Aufklärer kämpften gegen Aberglauben, Magie und Folter, die in Hexenprozessen regelmäßig zur Anwendung kam. Auch Mystikerinnen hatten es nun nicht mehr leicht. Sie wurden für Betrügerinnen oder Geistesgestörte gehalten. Wer ihnen heute noch wohlgesonnen ist, spricht meist von „Auto-Suggestion”.


Seit dem Ende der Hexenprozesse sind die getöteten Frauen von den Vertretern der verschiedensten ideologischen Auffassungen für ihre Zwecke benutzt bzw. missbraucht worden. 27 Zu einem Verständnis der Hintergründe, des Kreises der Betroffenen und des Umfangs der Verfolgungen zu gelangen, ist nicht leicht. Zur schwierigen Quellenlage (die Gerichtsprotokolle enthielten die erfolterten Geständnisse, aus ihnen Schlüsse zu ziehen ist sehr schwierig und nur in begrenztem Umfang möglich) kommen die Verfälschungen derer hinzu, die ihre meist durchschaubaren Ziele unter Berufung auf die Hexenverbrennungen verfolgen wollen. Das Thema eignet sich auch trefflich für die Verbreitung von Verschwörungstheorien.


Die Verfälschungen beginnen mit dem erstmaligen Auftauchen der Zahl von 9 Millionen getöteter Hexen, die seitdem immer wieder verwendet wird. Es war der Stadtsyndikus von Quedlinburg, Gottfried Christian Voigt (1740-1791), der zu dieser Zahl aufgrund einer Schätzung gelangte, der recht unseriöse Voraussetzungen zugrundelagen. Er ging von den Hexenverbrennungen aus, die er in den Akten des Quedlinburger Archivs für die Jahre 1569 bis 1598 vorfand. Das waren 30. Er fügte erst einmal 10 hinzu, da er annahm, dass seine Akten nicht vollständig waren. Er rechnete diese auf zuerst ein Jahrhundert, sodann auf 650 Jahre hoch. Er nahm die damalige Einwohnerzahl Quedlinburgs (ungefähr 11000) und verglich sie mit der Europas zu seiner Zeit (71 Millionen). Daraus errechnete er die Zahl der getöteten Hexen, indem er für Europa eine Periode der Hexenprozesse von 1100 Jahren (!) annahm. Unter Zuhilfenahme dieses abenteuerlichen Verfahrens kam er schließlich auf 9 Millionen verbrannte Hexen. Bevölkerungswachstum, unterschiedliche Intensität der Verfolgung zu verschiedenen Zeiten, an verschiedenen Orten, gesamte Dauer der Verfolgung in Quedlinburg und im gesamten Europa? Keine Probleme für Voigt und diejenigen, die seine Zahlen benutzen, wohl aber für jeden halbwegs ernsthaften Gelehrten, schon zur Zeit Voigts. Heute, in einer Zeit, in der sozialwissenschaftliche Verfahren fast allgemeine Bekanntheit genießen, umso mehr. Heute wissen diejenigen, die Voigts Zahl benutzen, wohl in den seltensten Fällen, wie sie zustandekam und von wem sie stammt.


Im übrigen stellt Behringer auch fest, „dass sich der Höhepunkt der Hexenverfolgungen auf wenige Jahrzehnte zwischen 1580 und 1630 eingrenzen ließ.” 28 Einige Jahre davon fallen in die äußerst geringe Zeitspanne, für die Voigt verlässliche Angaben für Quedlinburg machen kann (1569-1598) und die die Basis seiner Rechnungen bilden.


Eine Wiedergeburt erlebte Voigts Zahl während des Kulturkampfes im letzten Drittel des 19.Jahrhunderts, eingesetzt in der Argumentation gegen die Katholiken. Inzwischen ist allgemein bekannt, dass es auch in der protestantischen Welt Hexenverbrennungen gegeben hat.


An der Wende vom 19. zum 20.Jahrhundert gingen die Historiker mit viel Eifer, großer Sorgfalt und Objektivität an die Erforschung der Quellen. Sie untersuchten vor allem die Gerichtsakten, die sie in großer Anzahl noch finden konnten. Auch für den ostfriesischen Raum sind die grundlegenden und wesentlichen Erkenntnisse über die Hexenverfolgungen in dieser Zeit ernsthafter Forschung gewonnen worden. 29


Im Nationalsozialismus sah alles wieder ganz anders aus. Mit den Hexenverfolgungen wollte angeblich das Christentum die Frauen der nordischen Rasse dezimieren. Von den 9 Millionen verbrannter Hexen war wieder die Rede, und die SS richtete eine eigene Forschungsstelle über Hexen ein, die aber keine besonderen Erfolge in Form von neuen Forschungsergebnissen vorweisen konnte. Die Frau des Generals Ludendorff wirkte als Vertreterin der nationalsozialistischen Frauenbewegung eifrig an der Verbreitung der nationalsozialistischen Hexenlehre mit.


Völkische und neuheidnische-esoterische Strömungen, nicht nur in Deutschland, verbreiteten nach dem 2.Weltkrieg von neuem die Zahl von 9 Millionen getöteten Hexen, und eine Strömung im Feminismus beteiligte sich daran. Hin und wieder bringen Magazine und Illustrierte diese Zahl wieder in Umlauf.


Am Falle der Hexenverfolgungen ist zu sehen, wie schwierig es ist, zu Erkenntnissen zu gelangen, wenn es Menschen gibt, die versuchen, noch aus einem solchen Verbrechen ihr Kapital zu schlagen. So als genügte es nicht, dass Frauen in großer Zahl, zu vielen Tausenden, denunziert, gemartert und ermordet wurden, muss nun noch eine möglichst große Zahl her. Dahinter steht nicht der Wille zu verstehen, das einzelne grausige Schicksal nachzuvollziehen und nachzufühlen. Es geht entweder um die Befriedigung der Sensationslust oder darum, möglichst viele Menschen zu beeinflussen. Zu letzterem jedoch, denke ich, sollte die Wahrheit genügen.


Für die Angabe einer Zahl der Opfer der Hexenprozesse rät Behringer: „Die zuletzt von Brady (1995, M.S.) gegebene Schätzung von 40-50 000 Opfern der Hexenverfolgungen sollte solange in Lexikoneinträgen, Zeitungsartikeln und im Geschichtsunterricht verwendet werden, bis weitere Untersuchungen gezeigt haben, ob innerhalb dieser Grenzen eine exaktere Bestimmung möglich ist.” 30 Auch Bradys Zahl ist, verglichen mit der gesamten Bevölkerung des damaligen Europas, sehr hoch.



Die weisen Frauen


Wie Johann Kruse 31 zeigte, hat der Hexenglaube die Zeit der Hexenverbrennungen um Jahrhunderte überlebt. Die Abergläubischen fürchteten sich im 20. wie im 14. und 15. Jahrhundert vor einem Schadenzauber und bezichtigten andere, meist Außenseiterinnen, als Verursacherinnen, die mit magischen Kräften ausgestattet sein sollten. Hexenbanner oder weise Männer und weise Frauen wurden zu Hilfe gerufen. Oft versuchten diese mit althergebrachten Heilmitteln Krankheiten zu heilen, bevor sie zu ihrem „Abwehrzauber” griffen. Auch aus den 30-er bis 50-er Jahren des letzten Jahrhunderts berichtet kruse von Hexenprozessen. Diese unterscheiden sich aber grundsätzlich gegenüber denjenigen aus der Zeit der Hexenverfolgungen. Hier sind die als Hexen verleumdeten Frauen die Klägerinnen. Die Hexenbanner oder weisen Männer oder (weniger) Frauen sind die Angeklagten, die oftmals mit einer lächerlich geringen Strafe davonkommen oder gleich freigesprochen werden.


Schon bei Betrachtung dieses Beispiels kommen Zweifel an der These auf, in den Hexenverfolgungen sei es um die „Vernichtung der weisen Frauen” gegangen. Denn die weisen Frauen gehören in diesem Fall zu den Verfolgern der Hexen.


Auch für die Zeit der Hexenverbrennungen sind die Zweifel an der These einer Vernichtung der „weisen Frauen nur zu berechtigt.


Walter Rummel schreibt: „Denn es gab sie ja tatsächlich, jene ‘Weisen’, wenn wir darunter nicht die ‘Hexenhebammen’ verstehen, sondern Frauen, aber auch Männer, die als Spezialisten ein breites Spektrum volksmedizinscher und magischer Anwendungen anboten. Nur hat es sich in Wirklichkeit genau umgekehrt verhalten, als die große Verschwörungstheorie behauptet. Verfolgt wurden in der Regel nicht die ‘weisen’ Frauen, sondern diese wie auch ihre männlichen Kollegen standen durchweg auf Seiten der Hexereigeschädigten, indem sie ihnen neben Rezepten zur Heilung von Hexereischäden auch probate Hinweise zur Entdeckung derer lieferten, die als vermeintliche Verursacher der angerichteten Hexereien in Frage kamen.” 32


Und er argumentiert: „Diese Inanspruchnahme durch die Bevölkerung ist der wesentliche Grund, warum die genannten Spezialisten von ihrer Umgebung in der Regel nicht bei der Obrigkeit denunziert wurden. Dennoch blieb den Obrigkeiten das Wirken der Volksmagier nicht gänzlich verborgen.” 33 Ja, es stellte sich heraus, „dass die Akten, die nach Trier zum kurfürstlichen Schöffengericht zur Begutachtung verschickt wurden, die Existenz einer regelrechten Szene belegten, die mit Wahrsagerei und anderen magischen Ritualen umgingen. Das Schlimmste daran musste für den Kurfürsten und seine Räte jedoch sein, dass diese Personen inmitten der großen Verfolgung der Hexen völlig unbehelligt blieben. Weder wurden sie von der Bevölkerung und den Geistlichen namentlich angezeigt noch von den lokalen Beamten aufgegriffen.” 34


Walter Rummel führt als Beleg seiner These zahlreiche Beispiele aus dem kurtrierischen Raum an, in dem sehr intensive Hexenverfolgungen stattfanden. Er hat dafür viele Archivalien gesichtet und wendet sich ganz ausdrücklich gegen die Spekulationen von Autoren, die ihre Schlüsse nur aus den Werken damaliger Dämonologen ziehen. Er fordert dazu auf, einen größeren Wert auf die Sichtung der vielen Akten in den Archiven zu legen und daraus Erkenntnisse zu gewinnen.


„Weder in den Zeugenaussagen noch in den erfolterten Geständnissen findet sich etwas von magischen Zirkeln, von ‘Hexenhebammen’ und Geheimbünden, dafür aber viel vom Elend des damaligen Lebens, von der Suche nach Erklärung für Schicksalsschläge und der Härte eines sozialen Umgangs, in dem kaum eine Gelegenheit ausgelassen wurde, anderen etwas heimzuzahlen. Berücksichtigt man hierbei noch die prekäre soziale Situation von Frauen in jener Zeit und ihre vielfältigen Verpflichtungen für das Wohlergehen der Familien, so wird plausibel, warum sie leichter in soziale Konflikte und damit in den Hexereivorwurf gerieten als Männer. Hierzu gehört aber auch das Faktum, dass zu ihren Kontrahenten und Anklägern, mal mehr, mal weniger, ebenfalls Frauen gehörten.” 35


Hier sind wir wieder beim zeitlichen Hintergrund angekommen, bei der allgemeinen Brutalisierung in den Glaubenskriegen nach der Reformation. Für die Frage, wer denn nun eine Hexe ist, gibt es nur eine sichere, aber auf den ersten Blick unbefriedigende Antwort. Eine Hexe ist eine Frau, die als Hexe denunziert und verurteilt wurde. Meist ist sie eine Außenseiterin: Zum ersten wecken Außenseiterinnen immer den Argwohn der sogenannten Normalen, und zweitens sind sie auch einfacher zu verfolgen. Weil sie wenig Rückhalt in ihrer Umgebung haben, kann leicht, oft straflos gegen sie vorgegangen werden, ja, man weiß sogar die Obrigkeit hinter sich und kann sich im Glauben wiegen, ein gutes Werk bei der Ausrottung des Bösen getan zu haben.


Die Ansicht, dass die Hexenverfolgungen sich nicht gegen die „weisen Frauen” richteten, wird von Eva Labouvie 36 bestätigt, die im Saarraum den aktenkundigen Fällen von Magie nachgegangen ist. Sie schreibt: „Anders als bei Hexenverfolgungen ging es den konfessionellen Behörden und ihren hohen wie niederen Würdenträgern bei der Entlarvung professioneller Volksmagier nicht um deren Ausrottung und leibliche Vernichtung, sondern um Abschreckung und Disziplinierung mittels eingehender Belehrungen, Warnungen, höchstens aber Kirchenstrafen. Zugleich aber beabsichtigte man eine gewisse Art der sozialen Ausgrenzung und Diffamierung, die den Zweck verfolgte, ein vorhandenes Klientel zu verunsichern und zu reduzieren. Dass die Wachsamkeit der ortsansässigen Geistlichkeit nicht darauf abzielte, durch die Beobachtung, Registratur und eine gezielte Befragung der volksmagischen Spezialisten, die seit den 80-er Jahren des 16. Jahrhunderts forciert betriebenen Hexenprozesse neue Verdächtige und Angeklagte zu liefern, zeigt die Tatsache, dass die vernehmenden Geistlichen während der Unterredung mit den zu sich berufenen Spezialisten einen auf der Hand liegenden Zauberei- oder Hexenverdacht sehr schnell fallen ließen und uminterpretierten. Auch aus den Verhören entlassene Personen wurden in keinem Falle als vermutliche Hexen oder Zauberer einer gerichtlichen Instanz überliefert. Kirchliches Anliegen war vielmehr das Aufspüren und vor allem das Unschädlichmachen jener aus ihrer Perspektive zutiefst abergläubischen Menschen mit den Mitteln der Kirche. Unter Berücksichtigung dieser deutlich auch artikulierten Zielsetzungen, die mit jenen der Hexenverfolger eigentlich nichts gemein hatten, kann davon ausgegangen werden, dass es sich bei den in kirchlichen Quellen aktenkundig gewordenen Personen um die auffälligsten, im gemeindlichen Umkreis bekanntesten und tatsächlich erfolgreich praktizierenden professionellen Volksmagier dreier Jahrhunderte handelt und nicht um unschuldige Phantome, wie sie den Hexenverfolgungen allzuoft zum Opfer gefallen sind.” 37



Verfolgte und Verfolger


Das Thema „Hexen” fasziniert auf den ersten Blick, auf den zweiten verwirrt es. Es lädt zu Verschwörungstheorien und Schauergeschichten ein, bei denen es einem kalt und warm den Rücken herunterläuft. Es kann aber auch liebgewonnene Vorstellungen zerstören bei dem, der wirklich wissen will, was geschah. Die geschichtlichen Forschungen der letzten Jahre sind ernüchternd: keine systematische Verfolgung von Frauen, keine Millionen Hexen, die „weisen Frauen” waren wohl auch nicht gemeint, heidnischer und christlicher Glaube waren für das Alltasgsbewußtsein der damaligen Menschen ununterscheidbar. Keine der vielen schönen Theorien will so richtig stimmen, nur Andeutungen, Vermutungen.


Vielleicht stellen wir ja nur die Frage falsch. Statt wissen zu wollen, wer die Verfolgten waren, wäre es am Ende nicht viel interessanter zu erfahren, wer ihre Verfolger waren? Welche Menschen in der gaffenden Menge am Scheiterhaufen oder bei der Wasserprobe standen? Wer die Denunzianten und Denunziantinnen waren? Was die Folterknechte und Richter dazu trieb, so grausam mit ihren Mitmenschen, Frauen zumeist, umzugehen? Was die obersten Hüter des christlichen Glaubens aller Konfessionen dazu trieb, die Menge auf wenige zu hetzen? Wer eine Gruppe zusammenhalten will, erfindet am besten einen Feind.


„Im Zeitalter ihrer mit aller Macht angestrebten Konsolidierung suchten die Konfessionen gegnerische Auffassungen systematisch zu unterdrücken, was nur noch gewaltsam, nur noch mit dem vollen Einsatz von Terror möglich war. Aber diese gewaltsame Unterdrückung gegnerischer Ansichten erfüllte, wie das gewaltsam-terroristische Vorgehen gegen die Hexen, im gesellschaftlichen Zusammenhang des Zeitalters offenbar eine stabilisierende Funktion: Durch das systematische Aufrichten von Feindbildern ließen sich die Reihen der ‘wahren Christen’ zusammenschließen und stärken. Wie wir aus vielen Hexenprozessen wissen, setzte sich zumal das Volk oftmals mit besonderer Leidenschaft für die grausame Folterung und Hinrichtung der Angeklagten ein, identifizierte sich also mit den terroristischen Praktiken seiner eigentlichen Verfolger und Unterdrücker. Die vehemente Einschüchterung, die durch die Denunziation und planmäßige Ausrottung der ‘anderen’, der Nicht-Konformen erfolgte und die eine Schutzmaßnahme nach außen wie nach innen darstellte, ließ noch die erzwungene Selbstverstümmelung als sadistische Befriedigung erfahren.” 38



1 Frida Weymann „Hexen in Dornum noch um 1665” in Ostfreesland-Kalender, Norden, 1926, S. 33-38

2 Johann Kruse „ Hexen unter uns. Magie und Aberglauben in unserer Zeit”, Leer, 1978

3 a.a.O., S. 96f

4 „Ostfriesische Zeitungen berichteten 1949, dass in jener Gegend Abergläubische für 57 oder 97 Pfennig - ohne die Sieben geht es nicht - ‘Teufelsdreck’ (Asa foetida) aus den Apotheken holen, das sie auf die Tür- schwelle oder die Fensterbank legen, in Rocksäume oder Bettzeug einnähen, um die Hexen zu bannen.” a.a.O., S. 23

5 Kruse, a.a.O., S. 143 ff. Er wendet sich auch entschieden gegen eine Romantisierung von Brauchtum und Volks-Glauben und -Aberglauben. Er zeigt, wie Kinder durch das Erzählen von Märchen verängstigt werden.

6 Becker, Bovenschen, Brackert u.a. „Aus der Zeit der Verzweiflung. Zur Genese und Aktualität des Hexen- bildes”, Frankfurt, 1977, S. 317: „1215. Die Vierte Lateransynode in Rom beschließt die Disziplinierung von Juden und Ketzern. Die Juden dürfen keine öffentlichen Ämter mehr bekleiden, keine hohen Zinsen ein- nehmen, keine christlichen Dienstboten halten. Juden müssen ein bestimmtes Gewand oder einen Juden- fleck tragen.”

7 Peter Dinzelbacher „Heilige oder Hexen? Schicksale auffälliger Frauen”, Düsseldorf, 2001, S. 130f

8 Siehe Hans-Jürgen Wolf „Hexenwahn. Hexen in Geschichte und Gegenwart”, Herrsching, 1990, S. 128f.

9 Becker, Bovenschen, Brackert, a.a.O., S.179f

10 Trevor-Roper „Religion, Reformation und sozialer Umbruch”, Frankfurt/Berlin, 1970, S.134f

11 Hans Peter Duerr „Traumzeit. Über die Grenze von Wildnis und Zivilisation”, Frankfurt am Main, 1979

12 Im folgenden beziehe ich mich weitgehend auf Peter Dinzelbacher „Heilige oder Hexen? Schicksale auffälli- ger Frauen”, Düsseldorf, 2001

13 „1976. In Klingenberg/Main werden der 23-jährigen Pädagogikstudentin Anneliese Michel auf bischöfli- che Anweisung hin von zwei Geistlichen Teufel ausgetrieben. Sie stirbt unter Gebeten.” Hans-jürgen Wolf a.a.O., S. 513

14 Eva Labouvie „Verbotene Künste. Volksmagie und ländlicher Aberglaube in den Dorfgemeinden des Saarraumes (16.-19.Jahrhundert)”, St. Ingbert, 1992, S.21f.

15 In der Scholastik stritt man sich sehr lange darum, ob denn nun auch Frauen eine Seele hätten oder nur „Fleisch” seien, nur animalisch, körperlich sozusagen. Die Ablehnung der Körperlichkeit hatte eine lange Tradition im Christentum. Schon die Eremiten der alten Kirche hatten, fast möchte ich sagen: eine Phobie vor dem Körper. Aber beim Aufkommen einer Begierde geißelten sie wenigstens nur sich selbst. Sie proji- zierten ihre eigenen „bösen Gedanken” nicht in die Frauen, bei deren Anblick ihnen diese Gedanken kamen, und ließen die Frauen zufrieden.

16 Hans Peter Duerr , a.a.O., § 5 „Die Verteufelung der Sinne, vornehmlich der weiblichen”, S.56-77

17 Das gleiche Motiv trifft man übrigens auch bei der Verfolgung der Juden , denen man zu diesem Zweck von der Hostienschändung über Brunnenvergiftung und Verführung christlicher Mädchen bis zum Verzehr von christlichen Säuglingen so ziemlich alles andichten konnte . Hier hat die nationalsozialistische Propaganda viel aus der Geschichte lernen können (z.B. „Jud Süß”).

18 Auf vielen Burgen in Deutschland können wir heute noch mit Schaudern die damaligen Folterwerkzeuge betrachten, Daumenschrauben, Streckbank usw., die heute längst einerseits durch die Erfindung der Elektrizität modernisiert sind. Auf der anderen Seite geht der Trend zum Kompakten: mit Messern, deren Klinge den Opfern langsam unter die Fingernägel getrieben wurde, wurden im Vietnamkrieg gefoltert.

19 Brockhaus, CD-ROM, 1999, Stichwort „Hexe”

20 In den Werken der antiken Literatur fanden sich allerdings auch so manche Hinweise auf Hexen.

21 Dieter Boris „Ursprünge der europäischen Welteroberung”, Heilbronn 1992, S.109f

22 K.G.Zinn „Kanonen und Pest. Über die Ursprünge der Neuzeit im 14. und 15.Jahrhundert”, Opladen, 1989,S.10

23 C.M.Cipolla „Guns, sails and empires: technical innovation in the early phases of European Expansion 1400-1700, o.O., 1965

24 Dieter Boris, a.a.O., S.113

25 Die Beutezüge der europäischen Mächte im „Zeitalter der Entdeckungen”, wie es schönfärberisch in unseren Geschichtsbüchern genannt wird, kosteten von Anfang an vielen Entdeckten das Leben:

den unmittelbar bei der Eroberung Getöteten, den Indios Lateinamerikas, die die Arbeit in den Bergwerken nicht überstanden und durch Sklaven aus Afrika ersetzt wurden, die zu vielen Hunderten schon auf der Überfahrt nach beiden Amerikas einen elenden, viehischen Tod starben, den Indianern Nordamerikas, die bei jedem Vorrücken der weißen Siedler dezimiert wurden und die heute in den Wildwestfilmen mit den hinterhältigen Eigenschaften ihrer Verfolger ausgestattet werden.

(In den USA hat es 1692 in Salem, Massachusetts, übrigens eine große Hexenjagd gegeben, mit bis zu 150 Angeklagten im Gefängnis, von denen 5 dort starben, ein Mann starb unter der Folter , 18 Personen wurden gehenkt. Arthur miller hat in „Hexenjagd” die beklemmende und intrigante Atmosphäre wiedergegeben. Er schrieb sein Werk während der Mac-Carthy-Zeit in den USA nach dem 2.Weltkrieg, als gerade wieder einmal eine Art Hexenjagd stattfand.)

Bis ins späte 19. Jahrhundert, bis in das 20. Jahrhunderts hinein, dauerten die Beute- und Rachefeldzüge auf der ganzen Welt. Auch die Kriege in Europa selbst nahmen kein Ende. Das 20. Jahrhundert sah einen neuen Höhepunkt der Brutalisierung mit zwei Weltkriegen, Faschismus und der Massenvernichtung von Millionen Juden und vielen anderen, die von den Nazis zu Untermenschen erklärt wurden. Das Ende der Kriege in Europa trat auch danach nicht ein - entgegen den blumigen Reden der Politiker. Wir haben ein neues Jahrtausend mit neuen Kriegen begonnen, und, kann man den Versprechungen des US-Präsidenten glauben, wird er weitere Kriege beginnen. Er will „das Böse” mit Waffengewalt ausrotten. Das lässt nichts Gutes hoffen.

26 Becker, Bovenschen, Brackert u.a. „Aus der Zeit der Verzweiflung. Zur Genese und Aktualität des Hexen- bildes”, Frankfurt, 1977, S.323

27 Im folgenden beziehe ich mich auf die Ausführungen in wolfgang behringer „Neun Millionen Hexen. Entstehung, Tradition und Kritik eines populären Mythos” GWU 49 (1998), S. 664-685

28 a.a.O., S.673

29 Dr. C. Borchling „Ein Hausbuch Eggerik Beningas”, Jahrbuch der Gesellschaft für Bildende Kunst und Vaterländische Altertümer, XIV (1902), S. 177ff und XV (1903), S. 104ff

30 A.a.O., S. 683

31 Siehe Anm. 2

32 Walter Rummel „’Weise’ Frauen und ‘weise’ Männer im Kampf gegen die Hexerei. Die Widerlegung einer modernen Fabel” in christof dipper, lutz klinkhammer und alexander nützenadel: „Europäische Sozialge- schichte. Festschrift für Wolfgang Schieder (=Historische Forschungen 68), Berlin, 2000, S.360

33 A.a.O., S.361

34 A.a.O., S.362

35 A.a.O., S.375

36 Eva Labouvie , a.a.O. (siehe Anm. 12)

37 A.a.O., S. 164f.

38 Becker, Bovenschen, Brackert, a.a.O., S. 181 f.