Asoziale

Die an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden, gelten als asozial. Die sie ins Abseits stoßen, sehen sich als Stützen der Gesellschaft.

Vor 30 Jahren galt als Ideal, dass möglichst viele, möglichst alle Menschen an Entscheidungen der Gesellschaft teilhaben, dass auch die Außenseiter zur Teilhabe befähigt werden sollten. Das war ein humanes, das war ein soziales Ziel.

Vor 10 Jahren kam es aus der Mode. Die Humanität wird nun im humanitären Einsatz, im Krieg, verwirklicht. Alle Geschenke an die Reichen, jede Kürzung für den Rest, jede Benachteiligung wird zynisch als die Rettung des Sozialen gepriesen.

Den vielen revolutionären Glücksrittern von früher vorzuwerfen, sie hätten irgendjemanden verraten, wären ins Lager der Gegner übergelaufen, hieße, sie arg zu überschätzen und ihre inszenierte "innere Zerrissenheit" ernstzunehmen. Sie sind nicht übergelaufen, sie sind einfach im Lager der Mehrheit geblieben. Nur der Wind hat sich gedreht.

Heute ist der Ausschluss von immer mehr Menschen Ziel von Wirtschaft und Politik. Den Billig-Produkten folgt der Billig-Mensch. Die Überflüssigen, aus den Betrieben Geworfenen werden zu teuer. Das schmälert die ansonsten prächtig steigenden Gewinne. Die Rausgeschmissenen einfach verhungern zu lassen wie in der Dritten Welt oder im früheren Ostblock, das geht zur Zeit (noch) nicht. Aber den Brotkorb kann man ihnen immer wieder ein Stückchen höher hängen.

Keine der Parteien wird mehr von der Mehrheit der Wähler als sozial angesehen, auch und gerade die sogenannten Sozialdemokraten nicht. Alle vier Jahre kann ich eine Figur wählen, die mir viel versprechen und danach das Hemd ausziehen wird, jemanden von der Nationalen Front aus SPD, CDU/CSU, Grünen, FDP und PDS.

Wirtschaft und Politik setzen immer mehr Menschen in Existenzangst und verlangen zynisch von ihnen Optimismus und Beifall. Sie zerstören eine nach der anderen alle sozialen Einrichtungen. Sie verringern die Bildungschancen durch Kürzungen der Ausgaben in diesem Bereich, durch Hochschulschließungen und die Einführung von Studiengebühren. Gleichzeitig schwätzen sie laut und dreist davon, dass Deutschland mehr für die Bildung tun müsse. Soll ich sie dafür noch ernstnehmen?

Sozialhilfe-Betrüger werden in vielen Städten von Sozial-Detektiven gejagt, während für die Verfolgung der Wirtschafts-Kriminalität in zweistelliger Milliardenhöhe nicht genügend Ermittler vorhanden sind. Kriegsflüchtlinge werden sofort abgeschoben, wenn der Staat ihre Verfolgung für beendet erklärt. Mit großer Nachsicht und Toleranz können dagegen Steuerflüchtlinge rechnen, diejenigen, die Steuern hinterziehen und ihr Geld ins Ausland verschieben. Sie erhalten eine Amnestie (oder heißt das Amnesie?).

Das Zerrbild der Demokratie, das die Herrschenden uns in totalitärer Eintracht zeigen, untergräbt die Grundwerte der Gesellschaft. Das scheinen sie hin und wieder selbst zu ahnen. Und dann schicken sie einen pfäffischen Gutmenschen vor, der in einer Sonntagsrede den Werteverfall beweint und die Menschen auffordert, doch alle hübsch artig zu sein, alles zu ertragen.

Nicht nur die materiellen Grundlagen der Gesellschaft, die es dem einzelnen ermöglichen würden, ein sorgenfreies Leben in Würde zu führen, werden untergraben. Auch die Solidarität, der Zusammenhalt unter den Menschen, die Freundlichkeit und Toleranz werden zum alten Eisen geworfen. Sie bringen nichts ein, waren ohnehin nie ein Exportschlager der Deutschen.

Wenn Zweifel aufkommen, wenn Wissenschaftler von "deutlich negativen Veränderungen in der Wahrnehmung der Bevölkerung über ihre soziale Integration"* sprechen, so scheint das nur ein einziges Mal wie eine Sternschnuppe in den Nachrichten auf. Auf NDR 4 passiert das ab und zu, vielleicht ein Volontär, dem sie noch nicht die Hammelbeine langgezogen haben. Bis zu den nächsten Nachrichten ist die Meldung verschwunden. Keiner will's wissen. Niemand soll's erfahren. Was die sogenannten Eliten dieser Gesellschaft am wenigsten interessiert, ist Selbsterkenntnis und Selbstkritik.

"Zum qualitativen Zustand der deutschen Demokratie in der Wahrnehmung der Bevölkerung wird deutlich, dass ein erheblicher Teil sowohl eigene Einflusslosigkeit als auch eine soziale Spaltung wahrnimmt, und damit erhebliche Zweifel an der Problemlösungskapazität oder dem Willen zu sozialer Gerechtigkeit in der herrschenden Politik ausdrückt. Es kann belegt werden, dass sich daraus auch negative Auswirkungen für die Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit ergeben."*

Interessiert's einen sogenannten Wirtschaftsführer oder Politiker, der selbst zur Erreichung seiner Ziele auf die "faulen Arbeitslosen", die "Sozialschmarotzer", "Schein-Asylanten" und "Wirtschaftsflüchtlinge" eindrischt?

Vielleicht doch, wenn man mit Nachsicht und Verständnis auf die Nöte und Sorgen der Ausländerfeinde eingehen und damit Landtagswahlen gewinnen kann.

Wo sind die Asozialen? Am Rand? In der Mitte? An der Spitze?


* Menschen_abgegrenzt_10.12.2003.pdf, www.uni-bielefeld.de